Sie läuft weg, immer weiter durch die Wüste. Sie ist auf der Flucht, hat kein Ziel, will nur weg. Dort, wo sie herkommt, wurde sie gedemütigt. Sie trägt ein Kind in sich, bei deren Zeugung sie kein Mitspracherecht hatte. Sie weiß, dass sie nie wieder zurück will. Sie hat keinen Platz, kein Zuhause, niemanden, der sich um sie kümmert. Sie ist erschöpft und hat Durst. Sie weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird, wenn sie nicht bald Wasser findet. Und selbst dann weiß sie nicht, wie es weitergehen soll.
Soll sie nicht einfach aufhören zu laufen? Diese Frage stellt sie sich immer wieder. Doch dann erinnert sie sich an das ungeborene Kind in ihr und schleppt sich weiter. Immer weiter, durch den brennend heißen Wüstensand. Da! Endlich: Eine Wasserquelle! Sie stolpert darauf zu, sinkt zu Boden, schöpft mit den Händen Wasser und trinkt. Dann sinkt sie in sich zusammen und schließt ihre Augen. Wie soll es nur weitergehen? Sie will einfach aufgeben. Hier sitzen bleiben und … »Hagar!« Plötzlich hört sie eine Stimme: »Wo kommst du her und wo gehst du hin?« Sie erstarrt, öffnet vorsichtig ihre Augen. Ein Mann steht neben ihr, schaut sie fragend an. Auf die erste Frage kann sie eine einfache Antwort geben: »Ich bin meiner Herrin davongelaufen.« Auf die zweite Frage weiß sie keine Antwort. Der Mann schaut sie lange an. Dann sagt er: »Geh zurück, ordne dich unter und halte die Situation aus.« Hagar ist geschockt! Auf gar keinen Fall will sie zurück! Aber der Mann spricht weiter: »Du wirst einen Sohn gebären und du sollst ihn Ismael nennen. Das heißt ›Gott hat gehört‹. Denn Gott hat dein Elend gesehen.« Dann dreht der Mann sich um und verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist. Seine Worte hallen in Hagar nach. »Gott hat dein Elend gesehen. Er hat es gesehen.« Bei jeder Wiederholung scheint sich etwas in ihr zu verändern. Ihr wird klar, dass der Mann ein Bote des Gottes ihres Herrn ist. Und er hatte eine Botschaft für sie: Du bist nicht allein.
Es gibt jemanden, der ihre Situation, ihre Schmerzen wahrgenommen hat. Jemand der sie, eine einfache Magd erkannt hat, gesehen hat. Das fühlt sich unwahrscheinlich gut an! Hagar merkt, dass ihr das Kraft gibt. Genügend Kraft, um zurückzukehren und die Situation auszuhalten, wie der Bote es verlangt hat. Langsam steht sie auf und wappnet sich für die Rückkehr.
Leise flüstert sie: »DU bist ein Gott, der mich sieht.«
Nach der Bibel (1. Mose 16, 1-15)
Den Wunsch, gesehen zu werden, kennen wir alle. “Hast du mich gesehen?”, fragen Kinder, wenn sie etwas Neues ausprobiert und geschafft haben. Gesehen zu werden gibt uns Menschen Selbstbewusstsein – ich werde nicht vergessen, ich werde gesehen, ich bin jemand. Natürlich will ich gerade in meinen erfolgreichsten und schönsten Momenten gesehen werden. Ich glaube aber, dass es noch wichtiger ist, in den Momenten gesehen zu werden, in denen wir weder erfolgreich noch schön sind. Gerade wenn es mir schlecht geht, brauche ich Menschen, die mir sagen: “Ich sehe dich. Mir sind deine Gefühle, deine Traurigkeit oder dein Schmerz nicht egal.”
Die Geschichte Hagars kann uns im neuen Jahr 2023 unsere Augen und Herzen öffnen. Dann finden wir Menschen wie Hagar nicht nur in der Bibel. Wir entdecken sie in unserem Alltag: vielleicht als Klassenkameradin, als Bruder, als Mutter, als Freundin oder Freund, vielleicht aber auch als Flüchtlingsfrau, als Arbeiterin aus Bangladesch, die unter menschenunwürdigen Bedingungen Kleidung herstellt. Wir finden vermutlich viele Mädchen und Frauen, Jungen und Männer, die kraftlos sind und ausgebeutet werden.
Lasst uns versuchen mit den Augen Gottes auf die Menschen zu schauen.
Gott sieht und hört sie, so wie er auch dich hört und sieht.
Ein gesegnetes neues Jahr mit der Jahreslosung »Du bist ein Gott, der mich sieht.« aus 1. Mose 16,13 wünscht
Debby / Deborah John